Mitten in der Nacht
schoss mir diese Frage durch den Kopf. Natürlich kam sie mir nicht einfach so in den Sinn. Nur noch ein paar Stunden, dann würde meine Tochter 16 werden. 16. Wie erwachsen das klang. Mein kleines großes Mädchen. Das ihren so ganz eigenen Weg geht. Mit einer beachtlichen Reife, aber auch Ängsten und Sorgen, Sehnsüchten … Wir sind viel im Gespräch. Dennoch weiß ich vieles von dem, was ihr durch den Kopf geht, vermutlich nicht.
Wie war das bei mir?
Wer war ich damals? Was ging mir durch den Kopf? Wo stand ich?
Das Bild ist verschwommen. Die Zeitspanne zwischen 14 und 18 irgendwie eins. Ich sehe mich, weiß, wie ich aussah, aber wer war ich? War das ich? Wie viel ich von damals ist heute noch in mir? Natürlich sehe ich, wenn ich die Fotos von damals betrachte, eine große Ähnlichkeit, aber würde ich sie auch sehen, wenn ich nicht wüsste, dass ich das bin? Beziehungsweise gewesen bin. Wer und wie war ich damals?
Hockey – mein EIN und ALLES
Ich suche nach Erinnerungen. Sie sind nicht leicht zu finden. Aber eines weiß ich sofort und ganz sicher: Mein Anker, mein Halt, mein Leben damals war HOCKEY. Am liebsten hätte ich auf dem Hockeyplatz gewohnt. Auf dem Hockeyplatz gab es einen kleinen Clubraum, ich stellte mir vor, er wäre meine Wohnung, mein Zimmer, und ich könnte von früh bis spät Hockey spielen. Damals war mein Traum, die beste Spielerin der DDR zu werden. Selbstverständlich wollte ich auch zu den Olympischen Spielen, doch das war illusorisch, Hockey gehörte in der DDR nicht zu den olympischen Sportarten und wurde nicht gefördert.
Jetzt fällt es mir wieder ein, die Erinnerung kommt, die Schublade geht auf – als ich 16 war, erhielt ich erstmals eine Einladung zu einem Lehrgang der Juniorinnennationalmannschaft, der U19. Der Lehrgang war in Güstrow und das Ausscheidungsrennen für das Turnier der Freundschaft zwei Monate später in der Sowjetunion. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch einen Muskelkater, die Treppen zur Mensa waren eine Marter. Dennoch war ich glücklich. Jeden Tag durfte ich Hockey spielen, mit den besten des Landes, die schnell meine Freunde wurden.
Zwischenspiel Schule
Ich sehe mich auf der Rückfahrt im Zug, beseelt und zugleich tieftraurig – noch sechs lange Wochen waren es bis zum nächsten Trainingslager. Plötzlich erinnere ich mich ganz genau, ich saß in Fahrtrichtung am Fenster – allein im Viererabteil, widerwillig kramte ich mein Geschichtsbuch und meine Mitschriften aus der Tasche. Morgen hatte ich meine schriftliche Abschlussprüfung. Meinen Eltern hatte ich versprechen müssen, mich trotz des vielen Trainings ordentlich auf die Prüfung vorzubereiten. Am Abend wollte mich mein Vater abfragen. In Güstrow hatte ich nicht ein einziges Mal ins Buch geschaut. Nun blätterte ich durch die Seiten zur Französischen Revolution, las und las und dachte dabei nur daran, dass ich, als Jüngste der Truppe, als zweite Nachrückerin für das Turnier der Freundschaft nominiert worden war.
Am Abend im Wohnzimmer, mein Vater simulierte die Prüfung, wusste ich nichts. Mein Vater war entsetzt. Und ich auch. Ich war Klassenprimus und sah mich schon dem Gespött der ganzen Schule ausgesetzt. Was konnte ich jetzt noch tun? Mein Vater schickte mich mit meinem Buch ins Bett, dort sollte ich mir noch einmal alles durchlesen und dann das Buch unters Kopfkissen tun.
Am Morgen zog ich los, darauf gefasst, das erste Mal in meinem Leben total zu versagen. In meinen Gedanken stehe ich wieder im Prüfungsraum. Er war im Erdgeschoss im Wohnhaus neben der Schule. Warum hier? Hatte die Schule den Raum extra angemietet? Fünf Menschen saßen in der Prüfungskommission. Ich schaue in das Gesicht von Frau Gehm, sie hatte ähnlich lilane Haare wie Margot Honecker, neben ihr saß Frau Kaczmarek, die zweite Geschichtslehrin der Schule, und daneben unsere Pionierleiterin Frau Mann. Frau Kannegießer, unsere Direktorin, war dabei und noch ein Mann. Die fünf konnten fragen, was sie wollten, ich wusste alles. Meine Prüfung war ein einziges Freudenfest. Selbst die letzte Fangfrage, mit der Frau Kaczmarek mich nochmal aufs Glatteis führen wollte, konnte mich nicht erschüttern.
Ich glaube, den ganzen Weg nach Hause hüpfte ich. Ich hatte ein 1a-Abgangszeugnis. Und in sechs Wochen endlich mein nächstes Trainingslager.
Dirty Dancing in der Ostsee
Dieses Mal ging es mit der U16-DDR-Auswahl nach Rerik. Mein Vater hat einen Brief aufbewahrt, den ich meinen Großeltern damals aus Rerik schrieb.… „Ich bin seit gestern wieder in einem anderen Trainingslager. Bisher hatten wir einmal Training, welches aber äußerst leicht war. Besser hier ist, dass wir einmal an der Ostsee sind (waren noch nicht baden) und zweitens, dass hier auch Jungs sind, mit denen wir vorher schon im Trainingslager waren. Das Klima zwischen uns ist einwandfrei, das Wetter weniger. …“
Der Junge, der mich damals besonders begeisterte, hieß Gerhard und kam aus Erfurt. Aber auch Falk aus Köthen fand ich ganz dufte und Thomas aus Potsdam. Tatsächlich verliebt aber war ich, wie noch einige andere Auswahlspielerinnen auch, in unseren Nationaltrainer Frank Müller. Ich kann gar nicht mehr sagen, ob er hockeytechnisch ein guter Trainer war, aber menschlich war er einer dieser Trainer, immer auf Augenhöhe, immer zu einem Gespräch bereit. Natürlich kokettierte er auch mit uns Teenie-Verliebten. Dirty Dancing mit Patrick Swayze und Jennifer Grey in den Hauptrollen war damals unser Film. Natürlich rannten wir auch in Rerik ins Kino und danach in die Ostsee; Frank Müller gab den Patrick, und die leichtesten von uns – ich, juhu, gehörte dazu – sprangen ihm, unter dem Vorwand, die Dirty-Dancing-Hebefigur nachstellen zu wollen, in die Arme.
Nebenbei brachte mir Frank Müller in „Einzelstunde“ noch das Kraulen bei. In der Ostsee bei Wellengang. Ich weiß nicht mehr, wie viel Salzwasser ich schluckte, aber mein Können langte, um ein paar Monate später die für die Aufnahme an der DHFK in Leipzig notwendigen 25 Meter, mehr schlecht als recht zu bewältigen.
Danken konnte ich Frank Müller dafür nicht mehr. Plötzlich war er weg. Die Mauer war – für mich absolut überraschend – gefallen und mein Lieblingstrainer in die Hockeyhochburg nach Hamburg gezogen.
Was blieb,
und offenbar noch immer in mir schlummert, sind die Erinnerungen und meine Liebe zum Hockey.
6 Gedanken zu „Wer war ich, als ich 16 war?“
Erinnerungen an das Gestern bereichern das Leben von heute und sind ein Schlüssel für das Verstehen unserer Kinder und Enkel. Toll geschrieben.
Ein Stück Zeitgeschichte aus dem Nähkästchen geplaudert. Schön
Schön be- und geschrieben. Gefällt mir sehr.
Ich glaube, fast jeder hat mit 16 fast nur im Kopf, wer einem gefällt, mit wem man gerne zusammen wäre und wie man das vielleicht schafft : ) .
Ich war als Handballerin auf der Sportschule, mit den Mitspielerinnen zusammen im Internat. Schule und tägliches Training bestimmte das Leben, aber (in unserer Klasse waren wir nur Mädchen) beschäftigt waren wir damit, mit den Radsportlern, Volleyballern oder Eisschnellläufern zu flirten…
Die Sportschule kam bei mir ein wenig später, erst Leipzig, dann Berlin. In unserer Klasse waren Voleyballer, Handballer, Leichtathleten und eben ich. Als unsere Klasse mit der der Radsportler zusammengelegt werden sollte, intervenierten meine Handballer-Freundin und ich bei der Direktorin. Wir mochten die Radsportler nicht. Noch nicht. Nur zwei Monate später schon verliebte ich mich in einem von ihnen – meinen Mann. Meine Freundin brauchte ein wenig länger, dann war auch sie mit einem Radsportler liiert.
Schöne rückblickende Gedanken!