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Wandere ich noch, oder pilgere ich schon?

Was so ein Rucksack ausmachen kann.

Wie viele Kilometer habe ich in den vergangenen Jahren schon in meinen Wanderschuhen zurückgelegt? Insgesamt sicher mehrere Hunderte. Im letzten Jahr habe ich den Oberuckersee gleich fünf Mal in ihnen umrundet – das allein macht schon 125 Kilometer. Allerdings 125 Kilometer mit leichtem Gepäck. Nun jedoch habe ich mich aufgemacht, um zu pilgern oder einfach nur mehrere Tage zu wandern. Jedenfalls laufe ich auf dem Jakobsweg – und muss mir das erste Blasenpflaster bereits um die Zehe wickeln, noch ehe ich meinen Startpunkt Frankfurt/Oder verlassen habe.
Ursprünglich hatte ich geplant meine Wanderreise mit 11,2 Kilometern eher entspannt anzugehen, um dann jeden Tag ein paar weitere Kilometer draufzupacken, doch nichts da, noch bevor ich mein erstes Tagesziel – Lebus – erreicht habe, weiß ich, ich werde wohl eher von Tag zu Tag ein wenig abspecken.
Wer läuft auch bei 31 Grad und knallender Sonne los, die ersten zwei Kilometer noch dazu an Frankfurts unbeschatteter Hauptstraße entlang? Und dann weiter auf dem Deich – rechts kein Baum, links kein Baum, jedenfalls nicht direkt am Deichweg. Um Temperaturen habe ich mich im Vorfeld überhaupt nicht geschert. Wichtig war mir nur, nicht im Regen laufen zu müssen. Dabei weiß ich doch – eigentlich – dass mir Hitze viel mehr zu schaffen machen kann. In den heißen Wochen vor Ferienbeginn ist mir mein Kreislauf gleich zwei Mal – im wahrsten Sinne des Wortes – durchgedreht. Schwindel!
Warum fällt mir das ausgerechnet jetzt (erst) wieder ein? Kein Mensch weit und breit, und die Sonne brennt. Meine Haut, mein Körper auch. Ich brauche Wasser. Das aus meiner Flasche reicht nicht, um mich zu erfrischen. Ich muss baden, wenigstens die Beine. Und die Arme und das Gesicht und den Nacken. Eigentlich alles. Hundert Wiesenmeter entfernt glitzert zwischen riesigen, Schatten spendenden Bäumen die Oder. Dort will ich hin, dort mache ich mit plätschernden Beinen im Wasser Pause.

Ein Kirchturm – meine Herausforderung

Nichts lockt mich zurück in die Sonne. Aber ich kann ja nicht hier sitzen bleiben. Ich versuche es mit einer Abkürzung. Doch hüfthohes Schneidegras bremst mich. Außerdem krabbelt es wie wild. Sind das Zecken? Nichts wie weg hier und zurück auf den vorgeschriebenen Pfad.
Fünfhundert Meter kostet mich meine misslungene Abkürzung. Fünfhundert zusätzliche Meter, und der Rucksack wird auch nicht leichter. Dafür endet der Deich. Was für ein Segen. Ein dicht bewachsenes Wegelchen schlängelt sich – Schatten! Irgendwann mündet es in einer schier endlos erscheinenden Wiese. Über der Wiese haben sich Wolken vor die Sonne geschoben. In der Ferne taucht Lebus auf. Ich sehe den Kirchturm und frohlocke, gleichzeitig jedoch habe ich ziemlichen Bammel. Der Kirchturm von Lebus – er ist MEINE Herausforderung auf meinem Pilgerweg.
Auf meinem Pilgerweg? Bin ich denn überhaupt eine Pilgerin? Oder doch nur eine Wanderin? Was ist der Unterschied? Tatsächlich bin losgezogen, um zu wandern. Mich mal um nichts anderes zu kümmern, als von A nach B zu kommen und dabei mit mir allein zu sein, in Betten zu schlafen, in denen ich noch nie geschlafen habe und Menschen zu begegnen, die ich noch nicht kenne. Ich will mich einlassen. Das allerdings so preiswert wie möglich.
Im Kirchtum von Lebus findet man gegen eine Spende Herberge.
Eine Nacht im Kirchtum – wie romantisch, dachte ich, als ich zum ersten Mal davon las. Inzwischen ist daraus eine ziemliche Beklemmung geworden. Die Vorstellung, hoch oben im Kirchturm zu schlafen, in einem Verschlag mit zwei ausgeschriebenen Bettstellen, ängstigt mich. Was, wenn ein mir unbekannter Mann die zweite Bettstelle belegen würde? Was, wenn die zweite Bettstelle frei bliebe und ich ganz alleine wäre, im dunklen Turm mit all seinen unbekannten Geräuschen und dem dort sicher wohnenden Getier? Wäre das nicht noch viel gruseliger – mutterseelenallein in einer Holzkammer unter dem Turmdach? Bis zuletzt hatte ich geschwankt, ob ich mich dieser Herausforderung stellen sollte. Augen zu und durch! Raus aus der Fantasie, rein in die Realität.
Die gruselige, dunkle Kammer hoch oben, direkt unter der Glocke entpuppt sich als ebenerdiges, lichtdurchflutetes, spartanisches, aber gemütlich eingerichtetes Zimmerchen, gut isoliert nach draußen, oben und unten sowie – für mich enorm wichtig –abschließbar. Dass Küche, Dusche und Toilette drei Kirchecken weiter und einmal quer durch den Kirchgarten liegen, stört mich nicht. Jedenfalls so lange nicht, bis der Regen, der mir zum Abendbrot unterm Schleppdach zunächst eine zauberhafte Melodie tröpfelt, so heftig wird, dass ich fürchte, nicht mehr sicher und schon gar nicht trocken in mein Kämmerlein zu kommen.
Wie machen das die Störche, die hier, wie bei uns zu Hause, gleich neben mir wohnen? Ihr Nest muss schwimmen, ihre Federn triefen. Wurde je ein Storchennest vom Blitz getroffen?
Ich liege im Trockenen und lese. Erst jetzt bekomme ich mit, dass über mir alle Viertelstunde die Glocke schlägt, zur vollen Stunde will das Geglocke gar nicht mehr aufhören. Wie schnell gewöhnt sich ein Gehirn an diese permanente Störung? Werde ich schlafen können?
Ich kann: Von zehn bis sieben Uhr schweigt die Glocke. Dafür tobt das Unwetter.

 

Da ragt er heraus, der Kirchturm von Lebus – meine Herausforderung

Wie mag der alte Fontane gewandert sein ?

Am Morgen dagegen strahlt die Sonne – sofort wieder mit voller Wucht. 31 Grad den ganzen Tag. Das ist nicht mein Wetter.
Was sagen die Störche dazu? Haben sie ein Lieblingswetter? Denken sie überhaupt über so etwas nach? Oder nehmen sie einfach nur hin?
Der Weg ist grün. Nur Urwald um mich herum. Was für ein Glück. Hier lässt es sich aushalten. Ich verstehe nicht, wie man ganze Wälder zugunsten von Windrädern und Solarparks abholzen kann. Noch dazu, wenn parallel über einen unaufhaltsamen Temperaturanstieg geklagt wird? Unter dem dichten Blätterdach ist es gerade mindestens fünf Grad kühler als ein paar Kilometer weiter auf dem Deich. Herrlich.
Wenn nur dieser schwere Rucksack nicht wäre. Seit Jahren schon stelle ich mir vor, im Alter, also wenn die Kinder groß und aus dem Haus sind, loszuziehen und Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ neu zu schreiben. Aber mit diesem schweren Rucksack? Wie hat der alte Fontane das gemacht? Bestimmt nicht per pedes mit seinem halben Hausstand auf dem Rücken.
Links neben mir erstreckt sich das Mühlenfließ. Eine Aneinanderreihung kleiner Teiche, die einer den anderen speisen. Bäume wurzeln im Wasser, Entenflott, so weit das Auge reicht. Flirrende Sonnenstrahlen. Ich bleibe stehen, muss ein Foto machen. Plötzlich sind sie da: Mücken. Eine ganze Armada stürzt sich auf mich. Ich schlage auf meine Beine, meine Arme, meinen Kopf und flüchte. Sofort lassen die Mücken von mir ab. Zum Glück.
Vor dreißig Jahren haben mich Mücken mal durch einen ganzen Wald gejagt. Die kleinen Plagegeister hatten meine Freundin Dana und mich beim Blaubeersammeln aufgespürt, attackiert und gleich noch alle Verbündeten der näheren und weiteren Umgebung aufgestachelt uns ein für alle Mal aus ihrem Wald zu vertreiben. Eine Viertelstunde rannten wir, dann waren wir aus dem Wald und die Plagegeister los.

Der Urwald des Mühlenfließ

Wölfe, Hunde, Mirabellen

Was war das? Ein Rascheln. Ich muss an vorgestern Abend denken, an unsere Hunderunde in der Dämmerung, an meine panische Lilo, die den ganzen Weg über Wölfe witterte. Schauen mich da zwei Augen an? Vier? Gibt es hier überhaupt Wölfe? Na klar, Polen ist nicht weit, von dort sind sie doch eingewandert. Was, wenn gerade jetzt hier ein Isegrim meinen Weg kreuzt? Eigentlich machen die ja nichts, aber wenn ausgerechnet heute doch? Meine Fantasie … Ich checke die Umgebung, suche Bäume, auf die ich klettern könnte. Zuerst müsste ich natürlich den Rucksack abwerfen und dann … Was, wenn mir das Handy beim Sprung auf den Baum aus der Hosentasche fällt? Dann sitze ich halbhoch oben und traue mich nicht runter. Meine Beine werden immer schneller. Der Rucksack immer leichter. Plötzlich liegen Mirabellen vor mir auf dem Waldboden. Die Sammlerin in mir erwacht. Ich lasse es mir schmecken. Kein Wolf kann mich mehr schrecken.
Was der Weg alles bereithält: Brombeeren, Pflaumen, sogar die ersten Augustäpfel. Und einen See. Ich schwitze wie ein Elch und tauche ein wie eine Forelle.
Nicht weit entfernt bellt ein Hund die polnischen Radfahrer an, die eine Stunde lang den Weg gesucht haben, auf dem ich gleich an dem Hund vorbei muss. Shirley MacLaines „Jakobsweg“ kommt mir in den Sinn, oder war es der von Paolo Coelho? Darin beschreibt sie/er die Begegnung mit den wilden Hunden von – ich weiß nicht mehr, wie der Ort hieß. Als ich das Buch las, wusste ich, diesen Weg werde ich nicht gehen. Mittlerweile würde ich mich wohl wagen. Unser Trixihund hat mich therapiert. Natürlich bellt der Schnäuz, als ich den Weg an seinem Gartenzaun passiere. Ich summe mir ein Lied.
Es ist gerade mal drei Uhr, als ich die Pension an der Orgelwerkstatt erreiche. Ich bewohne sie ganz alleine. Die Wirtin ist momentan selbst auf dem Jakobsweg unterwegs und gerade bei den Meistersingern in Nürnberg. Ihr Mann, der Orgelbauer, verköstigt mich mit plückreifen Tomaten aus seinem Garten, Zwiebeln und Basilikum. Ich schnappe mir ein Buch und genieße meine Zweisamkeit mit mir.

Allein mit mir

Bin ich ein Scharlatan?

Am Morgen drückt mir der Orgelbauer meinen ersten Pilgerstempel in meinen Pilgerpass. Bin ich nun eine Pilgerin? Oder doch nur eine Wanderin? Was ist der Unterschied? Den Pass hatte ich mir vornehmlich besorgt, um die Pilgerherbergen nutzen zu dürfen. Bin ich ein Scharlatan? Nein! Ich bin eine Pilgerin! Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir.

Zum Abschied hat mir Christian, der Orgelbauer, einen Pilgersegen mit auf dem Weg gegeben. Seine Worte haben mich tief ergriffen. Heute werde ich noch zehn Kilometer pilgern, dann bin ich wieder zu Hause. Auf dem Weg beschäftigt mich Christians Vergleich des Pilgerns mit dem Begriff des Ablasshandels. Geht es, fragte er, nicht genau darum, abzulassen, von allem, was einen beschwert, vor allem auch von den vielen Gedanken, und einfach nur den Weg zu gehen?
Ich gehe ihn ziemlich zackig, merke ich plötzlich. Den Rucksack spüre ich kaum noch.
Kein Zweifel, ich pilgere, bin auf dem Weg. Ist nicht das ganze Leben eine Pilgerreise?

10 Gedanken zu „Wandere ich noch, oder pilgere ich schon?

    1. Ja , liebe Doreen…los gehen, los lassen…und schauen was passiert auf dem Weg…super Motto für’s ganze Leben, oder !?! ; -)))

  1. Liebe Doreen, in Gedanken bin ich mit dir gewandert oder gepilgert? Ist doch egal. Ich habe dich jedenfalls bewundert. Ich könnte alleine nicht losgehen. Bin ein Schisser. Alles hätte mich zum gruseln gebracht. Toilette über den Kirchengarten, Gewitter, fremde Menschen als Bettbachbar und dieser verdammt schwere Rucksack. Also ganz ehrlich, ich bewundern dich und bin froh, wenn du unbeschädigt und mit vielleicht neuen Ideen wieder zu Hause ankommst. Fühle dich gedrückt.

    1. Ich bin einfach gesprungen. Über die Angst. Und ganz bewusst alleine. Das Gefühl dabei und danach ist unglaublich.

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