BriefwechselUncategorized

Nora – 12. November 2023

Der erste Fragebogenrückläufer – Noras Vater Jo hält Rückschau

Pinnow, 12. November 2023

Liebe Hannelore,

ich bin beunruhigt, so gar nichts von dir zu hören. Geht es dir gut? Vermutlich hast du wieder nur immens viel zu tun, du Umtriebige. Oder gärt da etwas Tieferes? Das vermeintlich Unsolidaraische? Lass uns darüber reden!
Vielleicht motiviert es dich ja zu hören, das Papa wieder der erste war, der auf den neuen Fragebogen geantwortet hat. Unglaublich, wie er im Alter an Tempo zulegt. Ich schicke dir seine Antworten und hoffe, sie motivieren dich.
Ich freue mich von dir zu lesen,
ganz liebe Grüße,
Nora.

 

Wie ging es dir in der CoronaZeit? Drei lange Jahre?

Wir, meine Frau und ich (72 und 77 Jahre alt) sind in der engeren Familie die einzigen, die bisher „coronafrei“ geblieben sind. Altersbedingt sind wir sehr vorsichtig gewesen, haben uns drei Mal impfen lassen, haben in der Zeit von 2019 bis Anfang 2023 Masken getragen und unnötige Kontakte und insbesondere Kontakte in größeren Gruppen vermieden.  Wir haben in dieser Zeit weitestgehend keine öffentlichen Nahverkehrsmittel genutzt.

Wie hast du die CoronaZeit erlebt? Drei lange Jahre lang? Was hast du gedacht, gefühlt, beobachtet?

Die CoronaZeit war für mich eine Zeit starker persönlicher Verunsicherung.

Zeitnah nach meiner ersten Corona Impfung erkrankte ich an Rheuma. Aufgrund der zeitlichen Nähe zur Coronaimpfung schloss ich das Rheuma als eine Nebenwirkung der Impfung nicht aus. Ich wendete mich an das Robert-Koch-Institut, an das Paul-Ehrlich-Institut, an das Deutsche Rheumaforschungszentrum, an das  Deutsches-Zentrum für Immuntherapie und natürlich auch an meine Rheumaärzte und bat um Informationen darüber, ob ein Zusammenhang zwischen der Impfung und meiner Rheumaerkrankung bestehen könnte. Die Antworten liefen auf Folgendes hinaus: „Ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und Arthritis ist laut unserer Experten nicht belegt.“  Nicht belegt heißt natürlich nicht, dass ein solcher Zusammenhang ausgeschlossen werden kann. Ich war in einer Phase großer Verunsicherung ohne jemanden dafür verantwortlich zu machen. Für mich war Corona eine sehr ernst zu nehmende Erkrankung, für die es keine gesicherten Erkenntnisse gab und auch nicht geben konnte. Im Bewusstsein möglicher Risiken und einer persönlichen Risikoabwägung entschied ich mich dann doch für eine zweite und dritte Boosterimpfung. Mit dieser Risikoabwägung schätzte ich für mich die möglichen negativen Folgen einer Nichtimpfung höher ein als die Risiken eines möglichen Impfschadens. Nach den Boosterimpfungen hatte ich keine Nebenwirkungen.

Wie hat sich dein Denken, Fühlen und Beobachten über die drei Jahre verändert?

Mein Fühlen und Beobachten des gesellschaftlichen Umgangs mit der Pandemie hat sich grundlegend über den Zeitraum der Pandemie nicht verändert. Vermutlich kann ich dieses Fühlen jetzt nur genauer Beschreiben. Corona ist eine ernst zu nehmende Pandemie, auf die, die Menschheit nicht vorbereitet war.  In allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere in der Politik, mussten  Entscheidungen getroffen werden, deren Richtigkeit und Wirksamkeit ungewiss waren. Diese Ungewissheit war objektiv gegeben.  Die namentlich durch die Politik zu treffenden Entscheidungen waren objektiv mit dem Risiko verbunden, dass sie falsch sein können. Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang an die Habilitationsschrift eines Freundes zum Thema „Entscheidungstheoretische Aussagen zum Risiko …“ In seiner Arbeitsthese charakterisierte er das Risiko als die aus der Unbestimmtheit resultierende Möglichkeit, dass die Verwirklichung einer ausgewählten Entscheidungsvariante nicht zur Erreichung des angestrebten Ziels führt.“ Die Coronazeit war für mich objektiv eine Zeit der Ungewissheit, der Unbestimmtheit. Es war eine risikobehaftete Zeit. Dafür kann niemand verantwortlich gemacht werden. Diese Unbestimmtheit und Ungewissheit schließt auch kontroverse Meinungen zum Umgang mit der Pandemie ein. Das schließt auch ein, dass ich andere Meinungen zur Krisenbewältigung aushalten und akzeptieren muss.  Nicht bereit war und bin ich allerdings, Corona zu verharmlosen. Rückblickend muss ich Doreen Mechsner danken, dass sie deinen Austausch mit Hannelore, der genau das thematisiert, aufgegriffen und als „Briefwechsel“ veröffentlicht hat. Unbestimmtheiten, Ungewissheiten implizieren unterschiedliche Meinungen und Haltungen. Das ist objektiv so und muss im Diskurs ausgehalten und gegenseitig respektiert werden.  Das setzt einen respektvollen Umgang miteinander voraus. Diesem Anspruch ist unsere Gesellschaft nicht gerecht geworden. Das macht mir hinsichtlich des Zustandes unserer Gesellschaft große Sorgen.

Was hat dich besorgt? Geängstigt? Geärgert?

Besorgt, geärgert und mehr als genervt hat mich der gesellschaftliche Umgang mit der Pandemie. Das ist ein breites Thema. Ich versuche es auf den Punkt zu bringen. Die objektiv gegebene Unbestimmtheit im Umgang mit der Pandemie wurde in oft unverantwortlicher Weise durch parteipolitische Profilierungssucht von Politikern und wohl auch von Wissenschaftlern und Medizinern missbraucht. Vulgärpolitiker (Trump, Bolsonaro, Lukaschenko) verharmlosten die Pandemie. Andere Politiker versuchten sich durch pausenlose Präsenz in den Medien hervorzutun. Landespolitiker nutzten unser förderalistisches System um sich in einem Überbietungswettbewerb ergriffener Maßnahmen  zu profilieren und stürzten Deutschland in einen regionalen Flickenteppich sich widersprechender Maßnahmen.  Die Medienpolitik nervte mich mit ihrer  über jedes erträgliche Maß hinausgehenden inflationären Thematisierung der Corona Krise. Die Medien und Politik trugen durch pauschalisierende Verurteilung derjenigen, die die durch die Politik ergriffenen Maßnahmen kritisch hinterfragten, zu einem angeheizten Lagerdenken bei. Inzwischen hat sich gezeigt, dass lange nicht alle durch die Politik ergriffenen Maßnahmen zielführend waren und dass kritisches Hinterfragen durchaus berechtigt war (z.B. hinsichtlich der bildungspolitischen Folgen für die Schülergeneration). Ich vermisse eine Entschuldigung bei denjenigen, die für berechtigtes kritisches Hinterfragen diskriminiert wurden. (Ich betone hier für berechtigtes (!) kritisches Hinterfragen; meine also nicht diejenigen, die die Gefährlichkeit der Pandemie verharmlosten. Zum berechtigten kritischen Hinterfragen gehört auch die Ablehnung einer Corona-Impflicht. Die durch die Regierungspolitik betriebene Corona-Impflicht kann (und muss wohl auch) scharf gegeißelt  werden. Was aber gar nicht geht ist, dass Impfgegner die Impfpolitik der Regierung als faschistisch bezeichneten. Das ist eine gefährliche Verharmlosung des Faschismus.)

Sorge bereitet mir also unser politisches System, welches sich vorrangig an machtpolitischen und parteipolitischen Interessen orientiert  und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Ich bin tief besorgt.

Wie bist du den unterschiedlichsten Situationen, wie mit den Maßnahmen umgegangen?

Sorge bereitet mir die Erkenntnis, das Corona noch nicht ausgestanden ist. Da sind zum einen die Long Covid Erkrankungen. In meinem Bekanntenkreis gibt es eine solche Long Covid Erkrankung und nach jetzigem Erkenntnisstand steht die Medizin diesem Phänomen ziemlich hilflos gegenüber. Hier unterstütze ich Initiativen des Gesundheitsministers für mehr Unterstützung Betroffener und in der Bereitstellung von Forschungsmitteln. Zum anderen bin ich nach wie vor hinsichtlich von Boosterimpfungen verunsichert. Impfschäden durch die Corona-Impfung dürfen nicht ausgeblendet werden und diejenigen, die sich mit Blick auf mögliche Impfschäden nicht impfen lassen wollen, dürfen nicht pauschal verunglimpft werden. Impfzwang bei Corona lehne ich ab. (Impfungen, nicht nur Corona-Impfungen, sind ein gesondertes Thema: „Ausgereifte“ Impfungen haben sich in der Medizingeschichte als ein Segen für die Menschheit herausgestellt. Die Coronaimpfung ist aus meiner Sicht (noch) nicht ausgereift. Ich bin für Impfungen, wenn diese „ausgereift“ sind; z. B. Impfungen gegen Masern. Ich bin gegen Impfpflicht bei „nicht ausgereiften“ Impfungen.  )

Wie ist deine Familie/ wie seid ihr als Familie miteinander in dieser Situation und mit dieser außerordentlichen Situation umgegangen?

Natürlich gab und gibt es auch in meiner Familie unterschiedliche, z. T. auch konträre Auffassungen und Meinungen zur Pandemie und den zu ergreifenden Maßnahmen. Wie oben schon gesagt, ist das objektiv der Ungewissheit geschuldet, die eine solche, für die Menschheit unbekannte, Pandemie mit sich bringt. Die so bedingten subjektiv unterschiedlichen Sichtweisen haben meine Familie nicht entzweit.

Was hast du in dieser Zeit über dich gelernt?

Wichtig ist es anderen zuzuhören und sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Dafür gibt es im Diskurs eine gute Strategie. Bevor ich in einer hitzigen Diskussion antworte, sollte ich für mich gedanklich die Argumentation meines Gegenübers wiederholen und erst dann antworten. Das hilft dabei, nicht aneinander vorbeizureden. … und wenn es gar zu arg wird, sollte man eine Nacht drüber schlafen.

Was über dein Land und die Gesellschaft, in der wir leben? Was denkst du heute über diese Zeit? Wie verhältst du dich gegenüber den neuen (alten) Krisen dieser Zeit?

Ich wiederhole mit Nachdruck: Über den Zustand unserer Gesellschaft bin ich zutiefst beunruhigt, Es dominieren kurzfristige parteipolitischen und machtpolitischen Interessen. Gesellschaftliche Visionen fehlen diesem, unserem Land. Das betrifft nicht nur den Zustand unserer Gesellschaft im Umgang mit der Pandemie, sondern insgesamt den Umgang mit den geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit (Krieg und Frieden, Rüstungspolitik  Klimapolitik, Migrationspolitik, Bildungspolitik, …) Es ist desaströs  was die Politik da liefert und es ist unverantwortlich, wie „Leitmedien“ (ARD, ZDF – um nur einige zu nennen) ihrer Verantwortung für eine unabhängige Berichterstattung nicht nachkommen. Ich distanziere mich ausdrücklich von denjenigen, die die Medien als Lügenpresse bezeichnen, kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass durch eine oft einseitige Berichterstattung und durch mediale Pauschalurteile tendenziös berichtet wird. Diese oft anzutreffende tendenziöse Berichterstattung, die einseitig dem Narrativ der Regierungspolitik folgt, halte ich für mehr als bedenklich.

 

2 Gedanken zu „Nora – 12. November 2023

  1. Dieser Beitrag gefällt mir aus zwei Gründen sehr gut.
    Erstens weil damit ein Anfang gemacht ist. Es wäre schön, wenn sich hier viele zu Wort melden würden, um die drei besonderen Jahre Revue passieren zu lassen.
    Zweitens merkt man, dass tatsächlich eine kritische und auch sich selbst reflektierende Betrachtung gelungen ist. Ich finde es toll, dass “Papa” nicht verurteilt. Ich teile nicht alle Meinungen, aber ich kann seine gut akzeptieren und bin sicher, dass man interessante Gespräche führen könnte, um sich weiter anzunähern. Ob ich es in der Weihnachtszeit schaffe, weiß ich nicht, aber ich werde auch einen Rückblick versuchen ! Danke für diesen Beitrag .

    1. Liebe Elke Pöhle,
      ich danke Ihne ganz herzlich und freue mich, dass Sie Diskussion eröffnet haben. Und natürlich bin ich sehr neugierig auf Ihren Rückblick. Laden Sie gerne weitere Menschen ein sich zu beteiligen.
      Herzlichst,
      Doreen Mechsner.

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