Vom Kampf gegen Windmühlen
Berlin, 26.2.2024
Liebe Nora,
Eigentlich bin ich müde gegen die Windmühlen dieser kaputten Welt anzugehen. Ja ich war vorgestern (24.2.24) auf der Friedensdemo vor dem Bundeskanzleramt, so wie ich seit Jahren auf nahezu allen Friedensdemos in Berlin war. Krieg oder Frieden – das ist für mich die existentielle Frage der Menschheit. Wir stehen nur ein paar Schritte vor dem Abgrund und mit der, durch die Regierungspolitik und durch große Teile der Medien entfachten, Kriegshysterie nähern wir uns diesem Abgrund bedenklich. Da du diesen Briefwechsel auch als Zeitdokument ansiehst, möchte ich in Erinnerung rufen:
- Die Außenministerin Annalena Baerbock sagte Anfang 2023 vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg: „Ja … wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“
- Der Verteidigungsminister fordert „Wir müssen kriegstüchtig werden“
- Die FDP Politikerin und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages Agnes Strack-Zimmermann rief kürzlich auf „Zusammen bis zum Sieg“
- Der CDU-Politiker und Mitglied des Deutschen Bundestages Roderich Kiesewetter forderte vor ein paar Tagen „Der Krieg muss nach Russland getragen werden“.
Wo sind in Deutschland die Politiker geblieben, die sich nicht für den Krieg, sondern für den Frieden verantwortlich fühlen?
Wo sind die Politiker geblieben, die wie seinerzeit Helmut Schmidt nach dem Maxime handeln „Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schießen“?
Wo sind die Politiker geblieben, die sich wie Altbundeskanzler Gerhard Schröder während des völkerrechtswidrigen Irakkrieges der USA 2003, dem Drängen der USA widersetzen und sich nicht an Kriegen beteiligen?
Ich rufe übrigens in Erinnerung, dass die USA diesen Krieg mit einer Lüge über angeblich existierende Massenvernichtungswaffen, die es nie gab, begründeten. Meine Skepsis gegenüber der USA-Politik resultiert u. a. aus dieser Lüge, denn wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Ich jedenfalls glaube den USA nicht.
Statt Kriegshysterie wünsche ich mir Friedensdiplomatie. Friedensdiplomatie setzt allerdings voraus, dass man diese elendige Schwarzweißmalerei, mit der sowohl die Politiker als auch die Mainstreammedien agieren (und manipulieren), überwindet und hinterfragt, ob man selbst tatsächlich dem Reich des Guten angehört und man die Russen zurecht im Reich des Bösen ansiedelt.
Wie nur soll dieser gordische Knoten des „Gut und Böse Denkens“ überwunden werden?
Die Russen sehen sich nicht als das Reich des Bösen, wohl aber sieht der Westen das so.
Der Westen sieht sich als das Reich des Guten. Die Russen sehen das ganz anders.
Was hilft?
Helfen tut da wohl nur ein Blickwechsel, wenigstens der Versuch, sich in die Sichtweise des jeweils anderen zu versetzen.
Ich übe es permanent.
Momentan lese ich ein Buch von Valentin Falin. Falin war in den 1970-er Jahren sowjetischer Botschafter in Bonn. Mit Blick auf den 2. Weltkrieg und mit Blick auf seine Familiengeschichte schreibt er: „Zählt man die Angehörigen meiner Frau hinzu, ergibt sich, dass von den 27 Millionen sowjetischer Bürger, die der Hitler-Invasion zum Opfer fielen, 27 Menschen mit mir verwandt oder verschwägert waren.“
27 tote Familienangehörige infolge des barbarischen Angriffskrieges Hitlerdeutschlands auf Russland – welch ein Trauma. Aus diesen Erfahrungen heraus und aus vielen Nachkriegsereignissen erwuchs das russische Sicherheitsbedürfnis.
Die NATO hat mit ihrer Osterweiterung dieses historisch bedingte Sicherheitsbedürfnis der Russen sträflich ignoriert. Die Russen haben mit ihrer Geschichte einen anderen Blick auf den Westen als dieser auf sich selbst. Das zu ignorieren ist ahistorisch, unverantwortlich und dumm.
Umgekehrt haben insbesondere Polen und die Baltischen Staaten ihren historischen Blick auf die UdSSR und auf die Russen. Ich nenne hier als Beispiel das verbrecherische Massaker der Russen im April 1940 bei dem 4400 polnische Kriegsgefangene erschossen wurden – ein Trauma für die Polen. Aus diesen historischen Erfahrungen resultiert das polnische Sicherheitsbedürfnis gegenüber den Russen.
Solche wechselseitigen Sicherheitsbedürfnisse zu ignorieren und umzuinterpretieren ist gefährlich und zeugt von einer gewollten oder ungewollten Arroganz der Politiker. Ich spreche bewusst davon, dass das Sicherheitsbedürfnis der Russen vorsätzlich in Aggressivität uminterpretiert wird. Pausenlos wird uns erzählt, dass die Russen erst die Ukraine, dann die Baltischen Staaten und dann den Westen angreifen wollen. Für wie blöd und selbstmörderisch hält man die Russen eigentlich.
Leider machen die Russen es einem nicht einfach zwischen Sicherheitsbedürfnis und Aggressivität zu unterscheiden. Ich selbst hätte nie erwartet, dass Russland die Ukraine militärisch angreifen würde. Dieser Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein verbrecherischer Krieg, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Er ist aber ein Krieg, für den auch der Westen und die NATO eine Mitverantwortung tragen, weil der Westen und die NATO das historisch bedingte Sicherheitsbedürfnis Russlands ignorierte.
Ich bin für Friedensverhandlungen statt für Kriegshysterie.
Friedensverhandlungen setzen allerdings die Bereitschaft voraus sich in die Denkweise des jeweils anderen zu versetzen und nach Kompromissen zu suchen. Ohne Kompromisse wird es nicht gehen.
Fehlt diese Bereitschaft zu Kompromissen steuert die Menschheit auf einen 3. atomaren Weltkrieg zu und wird untergehen. Untergehen werden dann auch all diejenigen, die Taurus-Marschflugkörper und Dark Eagle-Hyperschallraketen für die Ukraine fordern. Wer Krieg nach Russland tragen will (Roderich Kiesewetter) wird den Krieg nach Deutschland tragen.
Vielleicht noch folgenden Gedanken, den ich nur anreißen möchte. Deutsche Politiker (u.a. Finanzminister Lindner von der FDP) fordern Deutschland mit immer mehr Rüstungsausgaben kriegstüchtig zu machen. Lindner fordert dazu eine dauerhafte Erhöhung des Rüstungshaushalts und ein mehrjähriges Moratorium bei Sozialausgaben und Subventionen. Kurz er fordert ein Einfrieren der Sozialausgaben, was nichts anderes ist als die Forderung nach Kürzung der Sozialleistungen. Das gefährdet den sozialen Frieden und ist eine – ich formuliere es drastisch- soziale Kriegserklärung.
Beste Grüße an dich
dein Jo-Papa.