Briefwechsel

Jo, 17. Januar 2024

Denk ich an Deutschland

Meine beste Nora,

wie weiter mit dem Briefwechsel zwischen dir und mir? Dein Nachfragen, wenn wir uns sehen oder sprechen, macht mich schlaflos und ich denke an Heinrich Heine: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“.
Ich weiß keine Antworten auf die vielen Fragen, die diese kaputte Welt stellt. Oder anders gesagt: meine Antworten und Lösungsansätze finde ich in der Regierungspolitik nicht ansatzweise wieder. Die deutsche Politik ist für mich desaströs. Um dir meine Stimmungslage deutlich zu machen, gebe ich dir einige Synonyme für desaströs: desolat, fatal, katastrophal, beschissen. … Diese Attribute widerspiegeln mein emotionales Stimmungsbild.
Ich will das an drei Politikfeldern verdeutlichen.

a) Ich bin fundamental gegen die aktuelle deutsche Außen- und Verteidigungspolitik.
Ich will keinen mit militärischen Drohungen untersetzten interventionistischen Export deutscher Wertevorstellungen von Freiheit und Demokratie in andere Länder. Deutschland (und der „Westen“) ist nicht der Nabel der Welt. Genausowenig wie 2003 Deutschland am Hindukusch verteidigt wurde, wird Deutschland heute in der Ukraine verteidigt.
Ich will keine militärische Eskalation in der Ukraine. Militärisch ist der Ukrainekonflikt nicht zu lösen. Ansätze für eine friedliche Lösung des kriegerischen Konflikts hat Deutschland, hat die westliche „Wertepolitik“ viel früher verspielt. Symptomatisch dafür ist das Eingeständnis der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ zugab, dass das Abkommen von Minsk (2014) dazu diente, die Ukraine aufzurüsten.
Ich will Abrüstung statt Aufrüstung.
Ich will Friedenspolitik statt Konfrontationspolitik.
Ich will keine militärischen Interventionen.
Ich will keine 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr.
Ich will 100 Mrd. Sondervermögen für die Lösung von Zukunftsaufgaben in Deutschland (z.B. für Bildung)

b) Ich bin für ein sozial und wirtschaftlich starkes Deutschland. Ich bin bei Oxfam Deutschland. (Oxfam ist die weltweit größte Nothilfe- und Entwicklungsorganisation). Oxfam stellte in seinem aktuellen Bericht zur sozialen Ungleichheit 2024 folgendes fest: „Die fünf reichsten Männer der Welt haben ihr Vermögen seit 2020 verdoppelt, fast fünf Milliarden Menschen sind ärmer geworden. Unser Bericht macht deutlich, wie Superreiche und Konzerne von Inflation, Kriegen und Pandemie profitieren, während die meisten Menschen unter den Folgen leiden. Wir fordern deshalb eine Besteuerung großer Vermögen, um in den Klimaschutz, den Ausbau von Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherung zu investieren.“
Ich bin gegen eine Politik, die extreme soziale Ungleichheit (weltweit und in Deutschland) ignoriert. Auch hier finde ich mich durch die deutsche Politik nicht vertreten. (Anmerkung: Diese Feststellung betrifft nach meiner Überzeugung auch Grundsatzfragen der Migrationspolitik. Migration ist dort zu bekämpfen, wo die Ursachen für Migration liegen. Kurz gesagt: Statt Rüstungsexport bin ich für den Export von Entwicklungshilfe).

c) Um die Demokratie ist es in Deutschland schlecht bestellt. Was ist mit denjenigen, wie mich, die sich in der deutschen Politik auch nicht ansatzweise wiederfinden? Wen soll ich wählen, wenn Wahlversprechen schamlos gebrochen werden?
(Beispiel: a) zur Rüstungspolik: Im Wahlprogramm der Grünen steht: Keine Rüstungsexporte in Kriegesgebiete, heute gehören die Grünen zu den größten Befürwortern von Rüstungsexporten an die Ukraine. Mehr dazu unter: Bundestagswahl 2021: Was steht in den Wahlprogrammen der Parteien zu Friedenspolitik, Rüstungsexporten und Atomwaffen? Schau mal unter:  Ohne Rüstung Leben !
Beispiel b) zur Sozialpolitik: SPD und Grüne versprachen die Einführung einer Bürgerversicherung: Die Bürgerversicherung soll als einheitliche Rentenversicherung dafür sorgen, dass alle Menschen in Deutschland in der gesetzlichen Rente versichert werden. Ob Arbeitnehmer*innen, Selbstständige, Beamte, Vorstandsvorsitzende von Aktiengesellschaften und Politiker. Auch dieses Wahlversprechen ist unter den Tisch gefallen.
Alternativen finde ich in unserer Politik nicht. Rechtsextremismus ist keine Alternative. Politikansätze links sind nicht zu finden, da finde ich nur heilloses Zerwürfnis. Etwa 25 Prozent der Wahlberechtigten nahmen an der letzten Bundestagswahl nicht teil – auch das werte ich als Stimmungsbild dafür, dass man sich in der Politik nicht wiederfindet.

Mit diesem Briefwechsel will ich deiner Bitte nachkommen. Es spiegelt meine emotionale Stimmungslage wieder und gibt kein umfassendes Bild meines Politikverständnisses.

Liebe (hoffnungslose?) Grüße,
Jo-Papa.

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