Nora, 19. Dezember 2023
Lieber Jo-Papa,
hier kommt wie versprochen, der Text den ich über meine Demo-Erlebnisse geschrieben habe.
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Wenn reden unmöglich wird,
Was können wir dann tun?
Durch die Straßen ziehen. Trommeln, singen, klatschen, lachen…
Berlin war ein Fest. Energetisierend. Herzerwärmend. Wir sind sooo viele. Eine Kraft.
Die ausgebremst, die aufgehalten, die mundtot gemacht werden soll.
Es ist der 28. August 2021. Die Demokratiebewegung sammelt sich in Berlin. Ich bin noch keine fünfzehn Minuten im Zug – aus der Friedensstraße kommend, passieren wir die Landsberger Straße – als es losgeht. Rechts und links von uns beginnt ein schwarz vermummtes eiliges Rennen. Wir sind auf der Hut. Überlegen, was könnten sie wollen. Uns in den Friedrichshain treiben, um uns dort einzukesseln?
Pfingsten habe ich das so schon einmal erlebt, an der Siegessäule im Tiergarten. Anders als heute waren wir damals nicht Tausende, sondern maximal fünfzig Menschen. Aber offenbar brandgefährlich. Brutalst wurden damals einer Frau, mit der wir eben noch gesungen hatten, die Arme verdreht. Tief gebeugt mit schmerzverzerrtem Gesicht wurde sie an mir vorbeigeführt. Ich war schockiert, brüllte ehrlich empört: „Das könnt ihr doch nicht machen!“ Meine Freundin zog mich zurück. Zwei Stunden dauerte unsere „Maßnahme“ damals. Mein Tamburin wurde beschlagnahmt. Meine Freundin ist bis heute traumatisiert.
Der Zug teilt sich. In Parkläufer und Straßenläufer. Wo ist die Polizei? Daaa!!! Ein schwarzer Arm zieht plötzlich an der Trommel, die neben mir läuft. Die Frau, die an der Trommel hängt hat keine Chance. Ebenso wenig wie ihre Gefährten. Der Trommler mit der größten Trommel steht wenig später breitbeinig mit erhobenen Armen an der blauen Minna. Ich weiß nicht mehr, ob er durchsucht wird. Ich zücke mein Handy. Mitschnitte (für den UN-Sonderbeauftragten Nils Melzer) sind derzeit unsere einzige Chance, etwaige Polizeigewalt aufzuhalten.
Hilflos stehen wir um die abgeschirmten Musiker. Meine Freundin erkundigt sich bei der Trommlerin, wie wir helfen könnten. Ein Polizist unterbindet jedwedes Gespräch. Ein anderer blafft eine weitere Trommlerin an: „Wenn die Polizei arbeitet, haben Sie Folge zu leisten! Haben Sie das verstanden?“ Unsere Trommlerin versucht es mit einem Gespräch, sie sagt: „Die Leute gehen weiter, ohne dass wir trommeln. Dass heißt, es ist nicht so, dass wir die Leute zum Gehen animieren. Sie gehen trotzdem.“ Der Polizist schweigt.
„Dürfte ich wissen, weshalb Sie uns festhalten?“ Starren. Schweigen. „Darf ich nicht?!“ Ein Stückchen weiter platzt einer dritten Trommlerin der Kragen, sie ruft: „Sie halten mich fest, wie eine Schwerverbrecherin. Eigentlich bin ich sogar Nazi. Was dürfen wir? Immer brav Steuern zahlen, immer brav ´ne Spritze abholen in Zukunft als Dauerabo …“ Nun endlich reagiert ein Polizist: „So, eine schöne Rede haben Sie hier geschwungen. Ich weise Sie noch mal darauf hin, das ist eine polizeiliche Maßnahme, Sie hören jetzt einfach mal zu“. In mir rebelliert es. „Hört uns denn einer zu?“ NEIN! Verdammt noch mal. NEIN!!! Ignoriert, diffamiert, in die rechte Ecke getrieben. Und weiter geht es: „Sie tanzen hier nicht rum, als wenn Sie eine Party feiern. Sie bleiben hier stehen, bis ich Ihnen sage, wie es weitergeht. Haben Sie das verstanden?“
Ein älterer Mann, wie ich als Zeuge filmend, fragt: „Wie fühlen Sie sich dabei? Was erzählen Sie Ihrer Frau und Ihren Kindern heute Abend? Dass Sie wieder eine Maßnahme durchgeführt haben?
„Geht ruhig weiter“, rufen uns die Trommler zu.
Fünf Stunden später sehen wir sie wieder. Musizierend mit Tamburins und klitzekleinen Trommeln. Montag, erzählen sie uns, könnten sie ihre großen Trommeln wieder abholen.
In den fünf Stunden dazwischen ziehen wir durch die Berliner Innenstadt. Immer wieder sehen wir Polizeigewalt. Auffallend ist, dass jedes Mal der gleiche Trupp zuschlägt. Meist an Hauseingängen und Tordurchfahrten. Gruselig. Einmal, als ein Mann aufgehalten und geschubst wird – seine Brille fliegt in hohem Bogen auf die Straße – geht es wie Pfingsten mit mir durch: „Das könnt ihr doch nicht machen!“, brülle ich den drei Polizisten zu, die sich – die Schubsattakte absichernd – vor uns Nachfolgenden aufgebaut haben. In meiner Empörung habe ich keine Angst. Meine Freundin Katja schon. Sie nimmt mich bei den Schultern und sagt „Komm Nora“. An den Polizisten vorbei führt sie mich durch deren Schutzriegel wieder in die Reihe der Demonstranten.
Unser Zug wird zu einem einzigartigen Festumzug. Wir lassen den Prenzlauer Berg hinter uns, spazieren durch Mitte, durch Moabit – von den Balkonen werden wir überwiegend gefeiert, uns wird gedankt. Wieder läuft eine Trommlerin neben mir, eine schon ältere Dame. Ich frage sie, ob sie keine Angst habe. „Nein“, antwortet sie, „ihre Trommel gebe ihr eher ein Gefühl von Sicherheit“. Wir singen, sie trommelt. Wenn die Antifa auftaucht rufen wir „Nazis raus!“, später, als wieder mehr und mehr Polizisten neben uns hergaloppieren, ich sehe wie sie schwitzen in ihrer Montur“, skandieren wir: „Alle zusammen gegen den Faschismus!“
Wie schön wäre das!!! Alle zusammen gegen diejenigen, die gerade dabei sind unsere Grundrechte zu zertreten und parlamentarische Strukturen aufzulösen. Oder noch viel besser: Alle zusammen DAFÜR, dass unsere Grundrechte geschützt und parlamentarische Strukturen erhalten und verbessert werden.
Es ist noch nicht so weit. Mitten auf der Brücke stoppt uns die Staatsgewalt. Zunächst ist es nur eine löchrige Kette. Einige Demonstranten „passieren“ noch. Dann jedoch wird aufgerüstet. Plötzlich stehen sie da, Schulter an Schulter, die Hände zu Fäusten geballt vor der Brust verschränkt. Ich stehe zirka zehn Meter entfernt, am Gitter zum gegenläufigen Fahrstreifen. Gemeinsam mit anderen will ich hinüberklettern, raus aus dem eingeklemmten Pulk. Polizisten hindern uns: „Bleiben Sie, wo Sie sind!“ „Sie dürfen hier nicht rüber!“ Ein Mann fragt, weshalb nicht. Keine Reaktion. Schwarz vermummt, die Maske im Gesicht stehen die jungen Männer vor uns. Sie verziehen keine Miene. Nur Ihre Augen huschen hin- und her. Ab und an feuert einer: „Bleiben Sie, wo Sie sind!“
Ganz vorne in der ersten Reihe, das erfahre ich aber erst später, stehen meine Freundinnen Claudia und Lydia. Ein Meter trennt sie von den Polizisten, die alle behelmt sind, ihre Visiere jedoch noch oben tragen. Claudia und Lydia und die Menschen neben ihnen recken ihre Arme in den Himmel. Ein Demonstrant durchläuft immer und immer wieder den Korridor zwischen Polizei und Zug und mahnt ruhig zu bleiben. Claudia, so berichtet sie später, sucht das Gespräch. Polizisten in Vollschutz sind ihr vertraut. Sie arbeitet im Maßregelvollzug. Normalerweise, erzählt sie, „hole ich die Polizisten als Hilfe“. Nun jedoch steht sie einer schweigenden Menge gegenüber. Fragen, Bitten, Gesprächsangebote werden nicht erwidert.
Wie, frage ich mich, soll Kommunikation funktionieren, wenn sie nur einseitig ist. Wie kann man ein schweigendes Gegenüber erreichen?
„Lasst uns doch einfach durch!“, ruft es von hinten. „Die Mauer muss weg“, ruft es von überall.
Die Masse schiebt.
Meine Freundin Vicky, die mit meinem Handy auf dem Gitter steht, um zu filmen, schreit plötzlich: „Mach die Augen weg. Die haben Tränengas!“ Und dann merke ich es schon im Hals. Nichts wie weg. Jetzt dürfen wir über das Geländer. Flüchten ist erlaubt.
Auf der Flucht treffen wir Claudia und Lydia. Claudia hat Glück gehabt, sie hat nur einen Atemzug voll Tränengas abbekommen. Eine halbe Minute, sagt sie, habe sie nicht mehr atmen können. Es sei wie bei dem Asthmaanfall gewesen, den sie einmal hatte. Lydia jedoch hat es voll erwischt. Und zwar völlig überraschend. Sie hatte den „Stau“ genutzt, um zu essen und zu trinken. Das Tränengas kam genau in dem Moment, als sie ihre Wasserflasche im Rucksack verstaut hatte und sich wieder aufrichten wollte. Eine Stunde brauchte sie, bis sie die Augen wieder schmerzfrei öffnen konnte. Bis in die Nacht brannte ihre Haut.
Mit zusammengekniffen, weil unglaublich brennenden Augen, fragt sie: „Warum reden die nicht mit uns?“
„Zu jeder Kommunikation gehört das Wohlwollen des anderen.“
Max Frisch
Endlich wieder aufeinander zugehen,
endlich wieder miteinander reden,
einander (endlich) einmal wirklich zuhören.
Schreibe ich auf ein Schild, dass ich mir am Sonntag umhänge, um erneut mit tausenden Menschen durch Berlin zu ziehen. Wieder begleiten uns schwarz vermummte Polizisten. Immer wieder stellen sie sich uns in den Weg – wir teilen uns, verlieren uns und finden uns wieder. Es ist ein Katz und Maus-Spiel. Doch die Energie trägt. Selbst als ich im Prenzlauer Berg in einem Kessel lande, bleibt meine Stimmung gehoben. Wir alle hier wissen, was nun passiert. Wir wissen nur nicht, wie lange es bis zu unserer „Freilassung“ dauern wird. Die Polizei natürlich verrät es uns auch nicht.
Mit einem Mal stehen zwei Jungs vor mir, so alt wie mein Hannes, zehn, elf Jahre schätze ich. Sie zeigen auf mein Umhängeschild und fragen durch FFP2-Masken: „Was wollen Sie mit Ihrem Schild sagen?“ Ich erzähle Ihnen, wie schlimm ich es finde, wenn Verwandte, Freunde, Kollegen nicht mehr miteinander reden, weil sie in Sachen Corona unterschiedlicher Meinung sind. Die beiden fragen, welcher Meinung ich denn sei. Ich sage: „Ich demonstriere hier mit.“ „Wir teilen eher die andere Meinung“, erzählen die zwei, und geimpft seien sie auch. Tun sie mir deshalb leid? Nein. Ich merke, für mich ist es wirklich okay, wenn Menschen sich und ihre Kinder impfen lassen. Nur sollen sie uns ebenfalls zugestehen, uns nicht impfen zu lassen. Die beiden Jungs, scheint mir, können das. Wir reden noch ein bisschen. Und ich denke: So kann es gehen. So sollte es gehen. Die Kinder machen es uns vor.
Wenig später redet auch ein Polizist mit mir. Er muss meine Personalien aufnehmen und mich über den weiteren Werdegang belehren. Ich frage ihn, wie es ihm mit und in solch einer Maßnahme gehe. Er ist aus Thüringen und sehr freundlich, nun jedoch etwas irritiert. Schließlich sagt er: „Ich mache meinen Job.“ Und dann noch: „Die einen haben eben diese Meinung und die anderen eine andere.“
Erst einige Tage später geht mir auf: Das hatten wir schon einmal. Damals hieß es: Ich habe nur Befehle ausgeführt.
„Befehle erhalten, Befehle erteilen, das ist dein Leben, ja?“ Genau das hatte eine der Trommlerin am Samstag den Polizisten gefragt, der sie ohne vorherige Ansprache einfach und nicht gerade sanft aus dem Zug gezogen und dann gefordert hatte: „Sie bleiben hier stehen, bis ich Ihnen sage, wie es weitergeht. Haben Sie das verstanden?“
Die Trommler hatten verstanden. Als sie am Montag ihre (zum Teil sehr wertvollen) Instrumente abholen wollten, wurde ihnen die Herausgabe jedoch verweigert. Die Trommeln, wurde ihnen gesagt, bleiben weiter verhaftet. So lange, bis vermutlich ein Richter beurteilen wird, ob die Trommeln eine Straftat begangen haben und zerstört werden oder nicht.
Inzwischen befinden wir uns im neuen Jahr. Die Trommeln sind noch immer verhaftet.
Kunst als Waffe. So schrieb es Friedrich Wolf. Lasst uns Kunst machen, lasst uns Musik machen!!! Alle zusammen! Zur Not mit Kochtöpfen und Rührlöffeln.