Briefwechsel

Flucht vor Gefühlen

Was war los damals?

Löcknitz, 3. April 2024

Liebe Nora,

eine interessante Frage stellst du da. Hätte ich die Hochzeitseinladung ganz unbeschwert annehmen können, wenn der Bräutigam nicht „gewarnt“ hätte, dass ich dort auf diesen Ausgrenzer treffen würde? Ich glaube, wenn er mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, was ich eigentlich ganz blickig finde, dann hätte ich das noch ein bisschen im Grauen lassen können.

Weißt du, ich denke, am meisten erschrocken hat mich gar nicht, dass er mich „gewarnt hat, sondern die Feststellung, dass ich ja ein (das) Problem habe. Dss war mit einem Mal so auf dem Tablett. Also: Ich habe das Problem. Ich! Keine Rede davon, dass wir alle ein Problem haben. Das erschreckt mich total. Das geht unheimlich tief rein. Ich glaube, dahinter steckt das Thema, nicht gesehen zu werden – oder – falsch gesehen zu werden.
Ich empfinde es als eine Wahnsinnslast, dass ich diejenige bin, die dieses Corona-Spaltungs-Ding auf dem Tisch hat, es für die anderen auch noch mittrage. Denn die haben kein Thema (mehr) damit.

Ich merke, dass dieses Thema, wenn ich es mir nicht ansehe und für mich kläre, nach wie vor da ist und bleiben wird. Das verschwindet nicht einfach. Für die anderen offenbar schon.

Aber um auf deine Frage zurückzukommen: wenn mein Bekannter, der Bräutigam nichts gesagt hätte, hätte ich sehr wohl darüber nachgedacht, auf wen ich dort wohl treffen werde und wäre vermutlich zum gleichen Schluss gekommen: nämlich, dass ich nicht dorthin fahren möchte, wo ein Haufen von den bösen Ausgrenzern rumhüpft.

Tja Nora, das ist ein Thema, das mich ratlos macht.

Aber wenn ich ganz ehrlich bin, Nora, habe ich absolut keinen Bock zu Festen zu gehen und meine Lebensfreude mit Menschen zu teilen, mit denen ich nicht teilen will, mit Menschen, die ausgegrenzt haben – nicht nur mich, sondern alle anderen auch. Weil die zugelassen haben und ich nicht weiß, was die noch zugelassen hätten.
Es ist verrückt, aber ich bin gerade dabei, Menschen zu enthronen, die ich in meinen Herzen getragen und mit irgendwelchen Ausreden in mir selbst geschützt habe. Haben die sich schützend vor mich gestellt? NEIN!
Scheiß Thema!

In spüre eine Ohnmacht … Vielleicht sollte ich direkt auf den einen oder anderen zugehen, fragen: Was war los damals? Ich begreife das nicht. Wir müssen ja nicht unbedingt wieder Freunde werden, aber ich will verstehen … Jetzt, da ich das schreibe, meldet sich in mir Lebendigkeit, da komme ich aus diesem Fluchtmodus raus. Denn eigentlich flüchte ich ja. Vor meinen eigenen Gefühlen.

Wie ist das bei dir, liebe Nora?

Danke nochmal für deine Frage. Und den Kontakt zu dieser Therapeutin. Wir haben telefoniert, ich habe einen Termin und bin sehr gespannt.

Emma.

 

Lest hier, was Nora am 23. März an Emma schrieb.

Ein Gedanke zu „Flucht vor Gefühlen

  1. Ich habe für mich entschieden, nicht in Gruppen zurückzukehren, aus denen ich ausgegrenzt wurde , z.B. die Sportgruppe (sogar 2x) und die Musiktheoriegruppe. Hätten dort nicht alle unangenehm berührt geschaut, als ich mich verabschieden musste, hätten sie wenigstens “Schade” oder “Hoffentlich ist es bald vorbei” gesagt… Stattdessen sah man ihr Unverständnis, die Blicke sagten “Lass Dich doch impfen” oder “Geschieht Dir recht”.
    Da bin ich lieber allein als wieder in der Gesellschaft dieser Menschen. Ich habe es im persönlichen Bereich auch noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass jemand mich darauf angesprochen und sich entschuldigt hat, oder auch nur erwähnt hat, dass er falsch lag.
    Vielleicht ist das zu viel erwartet. Der Mensch verdrängt gerne Unangenehmes, und sich selbst einzugestehen, dass man sich so hinters Licht führen lassen hat, ist vermutlich schwer zu ertragen. Also weg mit dem Thema ins Unbewusste…
    Schlimmer als die Sprachlosigkeit finde ich allerdings den Hohn von Hartgesottenen, die ihre Meinungen auf Twitter kundtun , immer noch beleidigende Bezeichnungen für Kritiker benutzen und sich darüber auslassen, wie lächerlich die Forderung nach Aufarbeitung ist. Wenn ich das lese, bin ich froh, dass nicht so ein Typ Macht über mich hat. Und ich frage mich, ob diese kaputte Gesellschaft überhaupt von der gegenseitigen Verachtung wieder wegkommen kann ?

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