Wird es mit einem neuen Thema weitergehen?
Pinnow, 4. Februar 2024
Liebe Hannelore,
jetzt ist es schon wieder Februar. Ich wollte dir doch längst geschrieben haben. Aber mein Leben hält mich auf Trab. Du kennst das. Wird das irgendwann einmal anders? Wenn ich von dir und deinem vielen Tun lese, habe ich nicht den Eindruck. Vielleicht ist das auch gut so.
Erinnerst du dich noch an das Theater am Rand, von dem ich zu Beginn der CoronaZeit geschrieben hatte? Die beiden Intendanten hatten damals einen tollen Weg gefunden, um sich dieser ver-rückten Zeit und ihren unterschiedlichen Auffassungen anzunähern – über die Kunst. Mit einem Stück wollten sie sich und dem Publikum begegnen. „Südliche Autobahn“ von Julio Cortázar . Geschrieben 1966, über einen Stau vor Paris, der Monate dauert. Ich habe es mir geschaut und mich gefragt: Was wollten die Künstler uns damit sagen? Oder vielmehr der Künstler. Es stand nur Thomas Rühmann auf der Bühne. Tobias Morgenstern, der Rühmann und dessen Lesungen sonst immer musikalisch begleitete (oder vielmehr interpretierte) fehlte. Die Musik kam aus der Dose. Das fand ich merkwürdig. Später sickerte durch, dass Corona die beiden getrennt hatte – die Kunst verband nicht mehr.
Vor zwei Wochen nun las ich das Tobias Morgenstern, dessen Meinungen zum Zeitgeschehen ich teile, das Theater verlassen hat. Das bedauere ich sehr. Denn zuletzt war ich überwiegend zu seinen Veranstaltungen im Theater. Er hatte dort eine tolle Reihe ins Leben gerufen: Freies Wort – Freie Musik. Philine Conrad, die einige dieser Veranstaltungen moderierte, schrieb einen Abschiedsbrief an Tobias Morgenstern, der in der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde.
Philine Conrad ist gebürtige Kölnerin. Im Theater am Rand entdeckte sie einen Teil Deutschlands, der ihr so nicht bekannt war. Und damit bin ich bei meinem Thema und meiner eigentlichen Frage. Aber lies erst mal, was P.C. schreibt:
Zwei Jahre lang habe ich eine sehr wertvolle Reihe moderiert: „Freies Wort – Freie Musik“ im Theater am Rand in Oderaue, Brandenburg. Nicht nur, dass mich der Ort und die Gegend fasziniert haben (die wunderschön ist, mit Kranichen, Störchen und Graureihern – auch habe ich das damalige Fischsterben in der Oder live mitbekommen und die ausbleibende Unterstützung von Behörden und Regierung sowie die Wut der Anwohner über das Alleingelassenwerden; übrigens dieselbe Stimmung wie im Ahrtal damals.)
Es haben mich vor allem die Gespräche und Kamingespräche im Künstlerhaus in einer tiefen, intensiven Form bereichert, erfüllt und geistig erweitern und wachsen lassen. Die Überheblichkeit des Westens über den Osten beziehungsweise der Wessis gegenüber den Ossis war und ist nach wie vor zu spüren, und ich bin jedes Mal sehr bewegt nach Köln zurückgefahren. Denn so bin auch ich aufgewachsen in einem Umfeld: „Die DDR, die schlimme Diktatur, die ungebildeten und etwas dummen Ossis, die nichts von der Welt mitbekommen und daher nur einen begrenzten Horizont haben.“ Ich habe dieses ehemalige, einst andere Land ganz anders kennengelernt. Vor allem die Menschen, das Miteinander und die Reflexion über politische Entwicklungen. Es ist irre, wie kluge, durchdachte, verknüpfende und über den Tellerrand hinausblickende Prognosen und Analysen ich hören durfte. Es hat mich sehr bewegt, geprägt und bereichert.
Was sie schreibt, bewegt nun wieder mich. Rührt mich.
Ich hatte dir von der Lesung erzählt, die ich mit Papa besucht hatte – der Literaturprofessor Dirk Oschmann las aus seinem Buch: Der Osten eine westdeutsche Erfindung. Hast du es inzwischen gelesen? Oder darüber? – Oschmann und sein Buch bekamen in der Presse viel Aufmerksamkeit.
Ich würde mich so gerne mit dir darüber austauschen. Deine Geschichte, dein Zurückschauen, wie war es nach der Wende als Professorin aus dem Osten in den Westen zu gehen? Hast du die „Wiedervereinigung“ als Wiedervereinigung erlebt? Oder als Vereinnahmung? Oder … was gibt es noch? Und wie erlebst du heute nach dreißig Jahren im Ruhrgebiet das Zusammensein?
Liebe Hannelore, das ist so ein wichtiger Teil unserer Geschichte – es wäre toll, wenn du mir davon erzählen würdest, gerne auch in kleinen Happen, immer mal so zwischendurch – falls dich aus Versehen die Langeweile packt oder als Ablenkung in deinem Tun.
Ich tue jetzt aber auch erst mal weiter.
Ganz liebe Grüße,
Nora.