Der Osten eine westdeutsche Erfindung
Pinnow, 30. November 2023
Liebe Hannelore,
gestern Abend war ich mit Papa auf einem Vortrag von Dirk Oschmann. Er ist Literaturprofessor in Leipzig und Verfasser des Buches: Der Osten eine westdeutsche Erfindung. Sicher hast du schon von dem Buch gehört, es vielleicht sogar gelesen. Ich habe es verschlungen und gemerkt, wie sehr mich dieses Thema berührt, wie sehr es auch mein Thema ist – dabei waren mir die Fakten der immensen Ungleichbehandlung gar nicht bewusst, gleichwohl spürte und spüre ich – und das tut weh- , dass das Land meiner Kindheit irgendwie demontiert und vereinseitigt wird.
Seit ich Oschmanns Buch gelesen habe, frage ich vor allem Bekannte deiner Generation, wie sie die Wendezeit erlebt haben und vorher den Osten. Gestern Abend nun während Oschmann aufzählte, wo heute noch, mehr als 30 Jahre nach der „Wiedervereinigung“, ein großes Ungleichgewicht (teilweise eine Verunglimpfung) besteht, musste ich an dich denken – Professorin im Ruhestand, ostsozialisiert und nach der Wende in den Westen gegangen. Aus deiner Anfangszeit dort hattest du mir erzählt.
Aber wie ist das heute, wie schaust du auf deine Geschichte und die Geschichte der Wiedervetreinigung und die dreißig Jahre, die du jetzt „Wessi“ bist? Ich glaube, du hattest mir tatsächlich einmal erzählt, dass du dich inzwischen mehr westdeutsch als ostdeutsch fühlst. Erinnere ich das richtig? Würdest du mir davon erzählen? Das fände ich großartig.
Ich habe unseren Briefwechsel zur CoronaZeit sehr schätzen gelernt und würde ihn gerne fortführen – mich interessiert ja nicht nur Corona, es gibt so viele Themen, ständig neue. Was hältst du von einem neuen Versuch?
Liebe Grüße aus der verschneiten Uckermark.
(Heute Nacht waren es 14 Grad unter Null. Was für ein Winter mitten in der Klimakrise –das wäre auch noch ein Thema.)
Nora.