Nachdenkereien

Ohne mich

Es ist der 1. Februar 1916. Mein Opa wird geboren. Mitten im ersten Weltkrieg. Sein Vater, mein Uropa war zu dieser Zeit als Soldat an der Westfront. Erst im Januar 1919, also kurz vor dem dritten Geburtstag meines Opas, kam er wieder nach Hause.
Neunzehneinhalb Jahre später, am 18. November 1938, knapp ein Jahr vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges, wurde mein Opa eingezogen. Zweiundzwanzig Jahre war er damals alt. In den fast sechs Jahren des Krieges verschlug es meinen Opa nach Polen, Lothringen, die Kanalküste bei Calais, nach Weißrussland, nach Kronstadt sowie an die Front vor Wolchow.
So verrückt es klingen mag, ausgerechnet in dieser Zeit lernte mein Opa meine Oma kennen. Sie war eines der jungen Mädchen, das zu Hause an der Heimatfront eifrig Socken für die Soldaten in den Schützengräben strickte. Ein Paar von Omas Socken landeten an Opas Füßen.
Diese Geschichte, von der Oma und Opa nicht mehr als diese paar Eckdaten hinterlassen, habe ich in meinem Buch „Winterschmetterlinge“ aufgegriffen und in der Erzählung „Weihnachten vor Kronstadt“ literarisch ausgeschmückt .
Zurückgreifen konnte ich dabei auf einige Details, die mein Opa mir 1996 in einem Brief über seine  Soldatenzeit geschrieben hatte.

„Im ersten Winter des Krieges mit der Sowjetunion lag ich als vorgeschobener Beobachter in einem Schützengraben auf der Mondscheinhöhe vor Kronstadt – verlaust und verdreckt. Unsere Unterkunft war ein niedriger kaum mannshoher Unterstand mit einigen harten Pritschen. Draußen war es am Abend bitterkalt (ca. -40 Grad Celsius), sternenklar und windstill. Drinnen im Unterstand brannten keine Kerzen, sondern nur einige aus Handgranaten gebastelte Ölfunzeln sowie ein aus einer achtundzwanzig Zentimeter Kartusche selbst gebauter Kanonenofen, aus dem es qualmte. Diesen Ofen konnten wir nur nachts benutzen, am Tage hätte uns der Rauch verraten. Ich war Unteroffizier und Truppführer – Offiziere ließen sich vorne im Graben nicht sehen.“

Das klingt doch wie heute. Ich erinnere an Gerhard aus meinem Buch „Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! Aber nur kleine“, der forderte: „Ich finde, alle, die Politik machen, müssten irgendwie eine Art Frontbewährung machen müssen. Zum Beispiel könnten sie eine Stunde unter Artilleriebeschuss leben. Danach können sie dann sagen: „So jetzt machen wir Politik“. … und liefern Panzer … und wer weiß, was noch.

Auf der sonst so umkämpften Mondscheinhöhe, schrieb mein Opa weiter, fiel in dieser Weihnachtsnacht kein Schuss. Am Neujahrstag aber schon ging es weiter mit dem gegenseitigen Abschlachten.

„Wir haben unter Trommelfeuer gelegen. In den Morgenstunden war Wachablösung. Mein Vorgänger hatte vergessen, den Ofen auszumachen. Dadurch geriet der Beobachtungsposten unter Beschuss, ein Volltreffer war nur noch eine Frage der Zeit. Daher bin ich weggepest so schnell ich konnte. Kurz darauf gab es den Volltreffer“.

Später hatte mein Opa die Ruhr. Sie hat ihm das Leben gerettet. Es drückte ihm dermaßen im Darm, dass er den Unterstand Hals über Kopf verlassen musste, um sich zu erleichtern. Das war seine Rettung. Während er kackte, traf es den Unterstand. Darin waren seine Kameraden – alle tot.

Immer wieder habe ich versucht, mehr von Opa aus dieser Zeit zu erfahren. Es war schwer, Opa sagte über sich, er sei ein Meister im Verdrängen. Ich habe keine Ahnung, ob oder wie ihn diese Erfahrungen seiner jungen Mannesjahre geplagt haben – hat er von den Leichenteilen, die in den Bäumen hingen (und die er mehrfach erwähnt hat) geträumt? Haben ihn die vielen Toten verfolgt? Zumindest die, die er selbst getroffen hat? Hat er welche getroffen?
Wie kann man damit leben? Kann man damit leben?
Opa wurde mehrfach verwundet. Zeit seines Lebens hatte er mit Granatsplittern zu tun, die ihn getroffen hatten und im Körper wanderten.
1945 wurde er wegen einer Hirnverletzung vorzeitig aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen.

Ich habe eine Freundin, deren zwanzigjähriger Sohn panische Angst davor hat, dass der Krieg zu uns kommen könnte, dass er eingezogen werden wird. Ich kann diese Angst verstehen. Ich mache mir ebenfalls Sorgen. Mein Sohn ist vierundzwanzig. Was würde er im Falle eines Krieges tun?

Früher zu den Hochzeiten des Kalten Krieges, ich war noch ein Kind, habe ich mir überlegt, dass ich meinen  Mann und meine Söhne einfach verstecken würde. Später, als ich Mann und Sohn hatte, erkannte ich, dass es so einfach nicht sein würde – allerdings hielt ich es damals noch für ausgeschlossen, dass wir jemals in solch eine Situation geraten könnten.
Ich kann niemanden verstecken, der sich nicht verstecken lassen möchte. Jeder muss seine Entscheidung selbst treffen.

Aber stellt euch einfach mal vor:

„Es ist Krieg und keiner geht hin!“

Das sollte doch funktionieren.