Briefwechsel

Menschlichkeit im Jahr 2022

Wir lassen sie fliegen

Berlin, 26. Juni 2024

Liebe Nora,

vor zwei Jahren habe ich einen Text geschrieben, der mir sehr am Herzen liegt. Möchtest du ihn in deinem offenen Briefwechsel veröffentlichen?
Saludos, Camilla.

 

„La dejamos volar“ – (wir lassen sie fliegen)
  Menschlichkeit im Jahr 2022

Zügig ziehen die Wolken am blauen Himmel vorbei, den ich durch die beige Häuserwandschlucht erspähen kann. Es ist nicht so heiß wie sonst, ein großes Glück. Es wäre sonst unerträglich, die vorgeschriebene FFP2-Maske zu ertragen. Die riesige Taucher-Brille, nein, die werde ich auch heute nicht anziehen. Aber die Schwestern kennen mich schon, kein Versuch, mich zu überreden. Maske, Plastikhandschuhe und Plastikschürze kann ich akzeptieren, sogar die Netzhaube, „die, wie vieles, zu gar nichts nutze ist“, sage ich zu einer der Schwestern. Wir lachen beide leise auf der Intensivstation des Universitätsklinikums. So sind die Regeln eben. Aday ist gerade essen, da muss der Tod noch etwas warten. Aber dann lassen wir sie fliegen. Sie liegt da, wie ich sie selten erlebt habe: ruhig, ohne Vorwurf, ohne Beschwerde, ohne Anklage. Ich rede leise mit ihr, weine, schluchzte, und dann muss ich raus in die Sonne, kurz durchatmen, frische Luft spüren, mein Herzrasen beruhigen. Ich gehe im Krankenhauspark spazieren, kaufe mir Schokolade, rufe meine Familie an, meine beste Freundin, die im Urlaub am Ende der Welt ist, aber dennoch da.
Dann ist Aday vom Essen zurück. Ich summe: ´Eu sei que vou te amar´ (ich weiß, ich werde dich lieben), es kommt kaum ein Ton raus.

Erneut die gesamte Montur, aber ohne Brille. Keiner fragt mich hier, ob ich bei meiner Mutter sein darf oder nicht. Soll ich doch noch warten? Soll ich die Maschinen anlassen, ihren Körper hier behalten? Auf was warte ich? Dass wir uns doch noch verstehen, dass ich mich von ihr geliebt fühle, dass sie mich akzeptiert? „Ich bin da“, flüstere ich. „Ich habe dich sehr lieb, wahrscheinlich schon immer, aber jetzt ist es einfacher. Ich verzeihe dir und ich verzeihe auch mir, dass ich nicht die Türen der Covid-Station im 9. Stock eingetreten habe, um dich zu besuchen.“

Im 9. Stock Neurologie gibt es normale Zimmer und Patienten mit Covid, die von der Außenwelt abgeschirmt werden, wie Aussätzige; im Jahr 2022. Die Pfleger trauen sich, anders als auf der Intensivstation, nur mit Ganzkörperschutzanzug herein, wie ich ihn vorher nur aus dem Fernsehen kannte. Oder ist es wegen der sogenannten Regeln? Aber die Regeln müssen von Menschen eingehalten werden, um sie aufrechtzuerhalten. Im 9. Stock stellt sie niemand in Frage. Meine Mutter lag dort fünf Tage. Sie hat Covid erst im Krankenhaus bekommen, symptomlos. Als der Test endlich negativ war, wurde sie über 24 Stunden weiterhin wie aussätzig behandelt, ohne Besuchsrecht. Denn es war kein Bett frei, um sie zu verlegen. Der Transport in das Universitätsklinikum HUC auf den Kanaren dauerte auch über 24 Stunden. Es gab keinen Krankentransportwagen für eine 86-Jährige mit Gehirnblutung. In das erste Krankenhaus habe ich sie selbst gebracht, denn laut Anruf unter 112 wäre der Wagen des Rettungsdienstes frühestens in drei Stunden da gewesen.

Über ihr hohes Fieber auf Station 9 hat mich später, trotz täglicher Anrufe, niemand informiert, erst als sie durch das Schlucken des Erbrochenen einen Herzstillstand erlitt und auf der Intensivstation wiederbelebt wurde. Meine dringenden Bitten bei der Krankenhausdirektion, eine Ausnahme von den Covid-Besuchsregeln auf Station 9 zu machen, wurden ignoriert. Und das deutsche Konsulat meinte, es täte ihnen sehr, sehr leid, sie bekämen vieler solcher Anrufe, könnten aber leider nichts tun. Die Inselregierung Teneriffas hat sich nicht die Mühe gemacht, mir zu antworten.

Die Regeln stehen über allem, auch 2022, vor allem über der Menschlichkeit. Die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte, von der Generalkonferenz der UNESCO 2005 als große Errungenschaft bezeichnet, ist hier nicht von Bedeutung.

Artikel 3: Menschenwürde und Menschenrechte, Punkt 2. ´Die Interessen und das Wohl des Einzelnen sollen Vorrang vor dem alleinigen Interesse der Wissenschaft oder der Gesellschaft haben´, ist nichtig.

Ich schaue Aday an: „la dejamos volar ahora“. 

Er stellt die Maschinen ab.
Mein Körper bleibt erstaunlich ruhig, ich ersticke weder vor Schluchzen, noch breche ich in Tränen aus, wie an den anderen Tagen. Aday steht neben mir, „ich kann gehen, wenn es dich stört.“ Ich schüttele kaum merklich mit dem Kopf. Jetzt laufen mir die Tränen über die Wangen.

Ihr Herz schlägt regelmäßig.

Sie ist ruhig.

Die vielen Zahlen auf dem Monitor werden ganz langsam weniger.

Wo ist der Tod?

Ich habe ihn gespürt, als ich 18 war. Er war da und wartete auf mich. Aber ich bin nicht mitgegangen, ich wollte so dringend und ohne jede Diskussion leben.
Jetzt ist er nicht fühlbar.
Es ist ruhig.

Sie ist ruhig.
Aday ist ruhig, steht bei ihr und schaut, dass sie in keiner Sekunde leidet. Wie macht er das? Wie hält er es aus? Er spricht leise mit mir.
Ruhe.
Zahlen.
Meine Mutter.

Die Maschine piept.
Ich umarme Aday lange.

Ich kenne ihn gar nicht.
Wie viel Liebe es hier unten auf der Intensivstation gibt.

 

Freitag 29. Juli 2022

Camilla Hildebrandt, studierte Romanistin und ausgebildete Radiojournalistin, arbeitet seit rund zwanzig Jahren für den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, Schwerpunkte Bildung, sozialkritische Musik. 2013 bis 2020 war sie als Dozentin der DW Akademie für Journalismus in Bolivien, Guatemala, Brasilien, Libanon und Palästina tätig. Heute arbeiten sie zudem für das Online-Magazin Multipolar (https://multipolar-magazin.de) und Kontrafunk (www.kontfrafunk.radio).

 

 

Ein Gedanke zu „Menschlichkeit im Jahr 2022

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert